Hilmar Walter (Leipzig)
Ioveva, Mina: Zeit und Tempus im Deutschen und Bulgarischen. Versuch einer kulturkontrastiven Betrachtung. (Im Medium fremder Sprachen und Kulturen. Bd. 22) Frankfurt a./M.: Peter Lang Edition, 2014. 292 pp.
Sowohl für Germanisten als auch Bulgaristen erweckt der Titel des 2014 erschienen Buches von Mina Ioveva „Zeit und Tempus im Deutschen und Bulgarischen“ mit dem Zusatz, dass es sich um eine „kulturkontrastive“ Analyse handele, sicherlich gespannte Aufmerksamkeit, aber beim Studium auch nicht wenig Zweifel und Vorbehalte. Die Autorin hat sich die Aufgabe gestellt, für die Unterschiede zwischen den Tempussystemen in der deutschen und der bulgarischen Sprache mit der Suche nach kulturellen, historischen und philosophischen Gründen Erklärungen zu finden. Im Wesentlichen soll – nach dem Vorbild von Lutz Götze und seiner Schule – festgestellt werden, warum es im Deutschen sechs, im Bulgarischen aber neun Tempusformen gibt und wie sie sich gegenüber den „Zeitstufen“ Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verhalten (p. 16 f.). Berufen wird sich auf W. v. Humboldt, Schlegel, Leibniz bis Bopp. Auch Whorfs Hypothese von der sprachlichen Relativität wird begründend herangezogen. Lutz Götze wird zitiert um zu belegen, dass verbale Tempora als grammatische Ausdrucksmittel von Zeitbezügen nicht universell für alle Sprachen sind (p. 21 f.). Im Kern geht Ioveva von der Humboldtschen Auffassung vom sprachlichen Weltbild aus. Geschlussfolgert wird, dass ihr „kulturkontrastiver Ansatz“ darin besteht, nach kulturellen Hintergründen für die zu konstatierenden Unterschiede im verbalen Tempussystem zu suchen [2]. Interessant ist festzustellen, dass die Konzeption Götzes als an der konfrontativen Forschung über den Zweitspracherwerb orientiert gewertet wird.
Neben der Einführung besteht die Arbeit aus vier Kapiteln: I. Kurze Geschichte der Zeit; II. Sprachwissenschaftlicher Teil; III. Sprachgeschichtliche Hintergründe der Entstehung und Entwicklung der Tempussysteme im Deutschen und Bulgarischen; IV. Kulturgeschichtliche Hintergründe der Entstehung der Tempussysteme im Deutschen und Bulgarischen. Angefügt sind Schlussfolgerungen und ein kurzer Text unter der Überschrift „Zum Schluss zurück zur Frage: Was ist die Zeit?“ Das umfangreiche Literaturverzeichnis ist unterteilt in wissenschaftliche, populärwissenschaftliche und belletristische Quellen. [3]
Im Kapitel I. stellt Verf. zunächst Betrachtungen an über „Zeitbewusstsein in der Geschichte und Gesellschaft Europas“, „Zeit in den Naturwissenschaften: Physik, Biologie, Hirnforschung, Epigenetik“, „Zeit in unterschiedlichen Kulturen“ und „Zeit in der und durch die Sprache“. Das erfolgt anhand verschiedener Veröffentlichungen von Autoren wie U. Schnabel, A. Fol, G. Whitrow, A. Borst, W. Behringer, M. Gronemeyer, St. Klein, J. Piaget, O.-J. Grüßer und anderer, darunter auch populärwissenschaftlicher wie z. B. aus „GEO Wissen“, „Spiegel“, „Stern“ sowie auch belletristischer Quellen (z. B. Stefan Canevs „Bulgarische Chroniken“). Der Leser wird manches von dem hier Zusammengestellten über verschiedene Ursprünge und Auffassungen von dem, was Zeit eigentlich ist, sehr interessant finden. Die angeführten Fakten und Meinungen zeigen, dass Ioveva selbst eine solche Menge von Erkenntnissen und Interpretationen in der Literatur gefunden hat, dass sie meinte, vieles davon könnte für ihr Thema wichtig sein. Entsprechend enthält das ganze Kapitel viel Material, das für die Bearbeitung der von ihr gewählten Problematik sicherlich nicht unbedingt notwendig ist. Deutlich wird jedenfalls, dass der in der Wissenschaft sehr unterschiedlich bestimmte Begriff der Zeit letztendlich in dem Sinne behandelt wird, dass es, wie von Norbert Elias in seiner viel diskutierten Arbeit „Über die Zeit“ postuliert, „in einer Welt ohne Menschen“ keine Zeit gäbe [4]. In ihren Schlussfolgerungen am Ende ihres Buches geht Verf. auf das Verhältnis zwischen Zeit und Raum als wichtiges Element der „kulturphilosophischen“ Hintergründe der Tempussysteme in den beiden untersuchten Sprachen ein und führt folgende Faktoren für die Entstehung von Mitteln zum Ausdruck von Zeitbezogenheit in unterschiedlichen sprachlichen Systemen an: „Die geografischen und klimatischen Bedingungen, also der materielle Lebensraum. Dieser bildet die Grundlage für das Wissen über die naturgegebenen Gesetzmäßigkeiten, die den Prozessen in der Natur sowie dem menschlichen Leben zugrunde liegen. Darauf beruht die Organisation dieses Wissens in Zeitrechnungen, Kalendarien, Volksfesten sowie technischen Erfindungen; die geistig-religiösen Auffassungen, da diese Gefühls-, Gedanken- sowie Handlungskraft der Menschen in eine bestimmte Richtung zu lenken versuchen, um somit für Ordnung auf allen Ebenen der Gemeinschaft zu sorgen.“ (p. 263) In diesem Standpunkt findet sie auch eine Möglichkeit, den Unterschied zwischen den beiden Tempussystemen kulturkontrastiv zu erklären (s. u.). Es ergibt sich so eine nicht ganz differenzierte Einbeziehung der linguistisch-pragmatischen Kategorie der Deixis als wichtigster Bereich menschlicher Orientierung mit ihren drei sprachlich relevanten Dimensionen: Personal-, Lokal- und Temporaldeixis. [5]
Im Kapitel II werden die nach der Verf. für die Beschreibung des Tempussystems in den beiden Sprachen ausschlaggebenden Kategorien Tempus, Aspekt und Aktionsart mit Schwerpunkt auf dem Tempus behandelt. Bei der Behandlung des Problems, dass in den slawischen Sprachen spezielle formale Mittel zum Ausdruck von Aspektbedeutungen existieren und im Deutschen nicht, wird unter Berufung auf Mehlig davon ausgegangen, dass beim slawischen Aspekt „eine ursprünglich räumliche Perspektive auf die zeitliche übertragen“ wird. „Die Zeit wird durch den Raum definiert.“ Begründet wird diese Auffassung mit der von Mehlig im Sinne der internationalen Slawistik vertretenen Formulierung, dass bei der Verwendung des perfektiven Aspekts der Sprecher einen Standpunkt „außerhalb des denotierten Sachverhalts“ einnähme, „der es ihm erlaubt, den Sachverhalt als Ganzes zu überblicken“. Hinzugefügt wird ein Zitat von A. Isačenko mit dem bekannten Vergleich mit der Position des Individuums innerhalb und außerhalb einer Marschkolonne (p. 55 f.). Bei derartigen Deutungen von „Aspekt“ sollte man aber berücksichtigen, dass es sich bei ihnen eigentlich um metaphorische, veranschaulichende, meist für den Fremdsprachenunterricht verwendete Erläuterungen handelt, die diesen „räumlichen“ Bezug herstellen. Die Semantik von Aspektformen entsteht jedoch aus der aus dem Indoeuropäischen ererbten systemhaften Notwendigkeit, bei der Realisierung einer denotativen Bedeutung die Sprechereinstellung dazu zu explizieren. Ein kurzer Exkurs in die Geschichte des Altslavischen anhand von R. Aitzetmüllers bereits 1978 erschienener altbulgarischer Grammatik kann das belegen. Er kommt zu interessanten Schlussfolgerungen über die Entstehung der Aspektkategorie in den slawischen Sprachen als Folge von Entwicklungen von Sprachfamilien im Indogermanischen und beim Übergang zum Urslawischen, dessen späte Phase er im Altbulgarischen sieht. Wichtig scheint mir im Hinblick auf die Zielstellungen von Ioveva eine von Aitzetmüller getroffene einleuchtende Feststellung: „Die Verknüpfung der Handlung mit der Zeit erfolgt auf zwei Ebenen. Sie kann vom Sprecher in die Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft eingestuft werden. [...] Die zweite Ebene, auf der Handlung und Zeit verknüpft sind, ist die Dauer bzw. Nichtdauer der Handlung.“ Aus der Notwendigkeit des Ausdrucks von Durativität und Punktualität auf dieser Ebene entwickele sich als grammatisch-lexikalisches Mittel die Aktionsart, deren Existenz die Voraussetzung für die Entstehung des Verbalaspekts in der vollendeten Version in den slawischen Sprachen gewesen sei. Da diese Prozesse im Rahmen der Differenzierung zwischen den Sprachfamilien und Sprachen aus dem Indoeuropäischen heraus unterschiedlich verliefen, seien Verbalsysteme entstanden, deren grammatische Struktur durch die erste der genannten Zeitebenen determiniert wird, d.h. sie verfügen über ein ausgeprägtes Tempussystem (wie das deutsche) und ein „lebendiges“ Inventar von Aktionsarten, aber kein Aspektparadigma im Gegensatz zu den slawischen Sprachen. Aitzetmüller verfolgt in seinen Darlegungen zur Entstehung der Aspektkategorie im Altbulgarischen ausführlich die Grundlagen in den verschiedenen Stadien des Übergangs vom Indoeuropäischen über das Urslawische [6], deren Darlegung den Rahmen unseres Zwecks überschreiten würde. Jedenfalls gibt er eine einleuchtende Erklärung dafür, dass es sich um eine temporal geprägte Kategorie handelt. [7] Obwohl die Äquivalenzen zwischen deutschen und bulgarischen Tempusformen durch den im Deutschen fehlenden und im Bulgarischen das gesamte Verbalsystem beeinflussenden Aspekt ziemlich kompliziert sind, geht Verf. jedoch nur sporadisch auf die aspektuellen Unterschiede bei der Verwendung der Tempusformen mit der folgenden Begründung ein: „Da das Thema Aspekt sehr umfangreich ist, würde eine tiefere Auseinandersetzung ... über das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit hinausgehen.“ (p. 56) Das führt z. B. dazu, dass in der am Anfang des gleichen Kapitels gegebenen kurzen Schilderung des temporalen Formenbestands des Bulgarischen und Deutschen eine Differenzierung zwischen perfektiven und imperfektiven Verben im Bulgarischen weitgehend unberücksichtigt bleibt. Das fällt z. B. bei den Beispielbelegen für Ähnlichkeiten zwischen Präsens und Präteritum im Deutschen und den bulgarischen Entsprechungen und anderweitig auf, wo Aspektunterschiede z. T. kommentarlos bleiben. Dieses Verfahren beim Vergleich zwischen den beiden Tempussystemen ist bedenklich, denn gerade das Bulgarische ist – wie erst im historischen Teil des Kapitels III. erwähnt wird – durch die Beibehaltung des Aorists als Tempusform und die fast den gesamten Bestand an Verben umfassende Bildung von Aspektpaaren durch komplizierte semantische Gegebenheiten bei der Verwendung der Tempora charakterisiert. Diese Tatsache betrifft auch die Aktionsarten der bulgarischen Verben: Die meisten bestimmten Aktionsarten zuzuordnenden Verben existieren ebenfalls in Form von Aspektpaaren und zeichnen sich durch besondere Verwendungsweisen im temporalen Bereich aus. [8] Im sprachgeschichtlichen Teil (Kapitel III) hat Verf. allerdings nicht umhin gekonnt, im Zusammenhang mit der Entwicklung des deutschen Verbs aus dem Indoeuropäischen stellenweise auf das Verhältnis zwischen Aspekt und Tempus im Bulgarischen einzugehen. (p. 112 ff.) [9]
Es folgt eine „Kontrastiv-funktionale Analyse der Tempusformen im Deutschen und Bulgarischen“. Gegliedert nach den Abschnitten „Präsens im Deutschen – Präsens und Futur im Bulgarischen“, „Präteritum im Deutschen – Imperfekt, Aorist, Futurum praeteriti im Bulgarischen“, „Perfekt im Deutschen – Perfekt, Imperfekt und Aorist im Bulgarischen“, „Plusquamperfekt im Deutschen – Plusquamperfekt im Bulgarischen“, „Futur I im Deutschen – Futur im Bulgarischen“, „Futurum praeteriti und Futurum exactum praeteriti im Bulgarischen – würde + Infinitiv I, würde + Infinitiv II, Konjunktiv II der Vergangenheit, Modalverbverbindung mit sollen/wollen im Deutschen“ und innerhalb dieser „Paare“ nach „Ähnlichkeiten“ und „Unterschieden“ wird eine Zusammenfassung von Äquivalenzen zu temporalen Formen des Indikativs – offenbar in Auswertung gängiger einsprachiger und vergleichender Grammatiken [10] und auch von Lehrbüchern – wie aus dem Literaturverzeichnis zu entnehmen ist – geboten. Bei manchen Interpretationen von Zeitbezügen verbaler Aussagen sind Zweifel angesagt: Zum Beispiel wird eine Zukunftsbedeutung von deutschem Präteritum in Konstruktionen angenommen wie „Wir wollten morgen einen Ausflug machen (wir wollen es immer noch), aber die meisten von uns sind krank.“ (p. 67) Hier ist m. E. der Zeitbezug von wollen offensichtlich präterital (vgl. die Bedeutung [wir hatten die Absicht]), die futurische Bedeutung steckt im Funktionsverbgefüge „einen Ausflug machen“ in Verbindung mit dem Temporaladverb „morgen“, selbst wenn kotextuell (entsprechend der in Klammern gesetzten Einfügung Iovevas) der noch bestehende Wunsch mit verstanden werden könnte. [11]
Ein spezielles Teilkapitel ist dem bulgarischen Renarrativ und den deutschen Entsprechungen zu dessen Formeninventar gewidmet. Die Beschreibung der „Ähnlichkeiten“ und „Unterschiede“ zwischen den Ausdrucksmöglichkeiten der speziellen Semantik dieser bulgarischen Kategorie, gestützt auf eine Reihe von Veröffentlichungen dazu, gibt eine guten Überblick über als Äquivalente verwendbare deutsche Umschreibungen. Allerdings ist die Beschreibung der sog. bulgarischen „kopulalosen l-Periphrase“ und ihrer Funktionen ergänzungsbedürftig. Diese im Bulgarischen und Makedonischen im Hinblick auf das Slawische unikalen grammatischen Paradigmen des Verbs werden in neueren Forschungen unter dem Terminus Evidenzialität behandelt [12]. Verf. wählt den Terminus „Nacherzählformen“, der dem verbreiteten „Renarrativ“ entspricht. Sie hat nicht wenige Veröffentlichungen zu dem immer noch und immer wieder umstrittenen Paradigma der „kopulalosen l-Periphrase“ der bulgarischen Verben studiert. In der jüngeren Vergangenheit hat in der bulgaristischen Sprachwissenschaft die auch von Ioveva ausgewertete umfangreiche Arbeit von Anke Levin-Steinmann viele Diskussionen hervorgerufen [13]. Allerdings betreffen diese in erster Linie Levin-Steinmanns Ansichten über die Ursachen der Entstehung der Formen zum Ausdruck von „Renarrativität“ (bulg. „преизказност“), zu denen im Weiteren noch etwas auszuführen is t. Form und Funktion der Renarrativ-Formen im Bulgarischen der Gegenwart wird von Verf. in Anlehnung an ältere und neuere Veröffentlichungen beschrieben. Im funktionellen Teil allerdings werden Probleme umgangen, die in modernen Grammatiken des Bulgarischen und anderen Veröffentlichungen im Rahmen der Beschreibungen von Modi bzw. Modalität diskutiert und spezifiziert werden. Hier wirkt sich offenbar aus, dass Verf. darauf verzichtet hat, die Moduskategorie systematisch in ihre Beschreibung beider Tempussysteme einzubeziehen. Die neueste, konsequenteste und einleuchtendste – aber auch komplizierteste – Interpretation des „modalisierten evidenzialen Systems“ des Bulgarischen, die noch vor dem Erscheinen von Iovevas Arbeit veröffentlicht wurde, findet sich in einem umfangreichen Aufsatz in russischer Sprache von Ruselina Nicolova von 2007 und ihrer „Bulgarischen Grammatik“ von 2008. Letztere wird von Ioveva auch im Literaturverzeichnis mit erwähnt (p.284). [14] Sie argumentiert jedoch hauptsächlich ausgehend von älteren Veröffentlichungen Vl. Georgievs, V. Stankovs, E. Dëminas, A. Levin-Steinmanns und ordnet u.a. die „Formen der kopulalosen l-Periphrase“ hauptsächlich aufgrund ihrer Entstehung auf der Basis der Formen des Perfekts faktisch als indikativisch ein, wenn sie sagt, „dass die Nacherzähl- und Indikativformen sich gegenseitig ergänzen und ein Ganzes bilden.“(p.98) Der Renarrativ sei eine „funktionale Erweiterung des bulgarischen Perfekts...“ (p. 145) Daraus leitet sie ab, dass „die Tendenz, die bulgarischen Nacherzählformen dem Tempussystem zuzuordnen, berechtigt“ sei. (p.100). Somit seien sie ein legitimer Gegenstand ihrer Arbeit. Zweifellos kann man nicht negieren, dass auch Renarrativformen temporale Bedeutungen haben. Die Zeitbezüge sind jedoch „gebrochen“ durch epistemische Modalität und Evidenzialität. Die Tatsache, dass das Paradigma der Renarrativformen Entsprechungen zu anderen Modalformen, nämlich des Konditionals und des Imperativs enthalte, was gegen die Auffassung vom Renarrativ als modale Kategorie spricht, beschäftigte die bulgaristische Linguistik spätestens seit dem Erscheinen von Dëminas Arbeit „Пересказывательные формы в современном болгарском литературном языке. [15] Im Zuge dieser Diskussion ergab sich auch die Auffassung, dass der Renarrativ nicht in erster Linie „Nichtbezeugtheit“ des Inhalts einer Fremdaussage sondern die Tatsache signalisiert, dass der Sprecher eine Fremdaussage wiedergibt. [16] Als letzten und wohl auch einleuchtendsten Standpunkt kann man wohl die von Nicolova vorgeschlagene (von Ioveva nicht berücksichtigte) Differenzierung zwischen den Kategorien „Evidenzialität“ und „Modalität“ im Bulgarischen ansehen, wobei anerkannt wird, dass es zwischen den beteiligten Paradigmen des Verbs funktionale Unterschiede und auch „Überlappungen (overlapping)“ gibt. Was die Interpretation der Renarrativformen in der Arbeit von Ioveva angeht, die ja die Zeit- bzw. Tempusproblematik in beiden Sprachen analysieren soll, so wäre es u. E. empfehlenswert gewesen dabei zu beachten, dass sich die Renarrativformen wegen ihrer Funktion immer auf einen kommunikativen Akt beziehen, der für den Sprecher in der „Zeitstufe“ Vergangenheit stattgefunden hat. Man hat es bei den Formen des Renarrativs im Grunde mit zwei verschiedenen Zeitebenen zu tun – der des Stattfindens der mit dem Renarrativ wiedergegebenen und in der Vergangenheit gemachten Aussage und der gegenwärtigen des Sprechers, der die vergangene Aussage zitiert. Die Verwendung der Renarrativformen kann aufgrund dessen - nach Roman Jakobson - als eine Art von intralingualer Translation angesehen werden. [17]
Die Schlussfolgerungen im Kapitel II betonen den Unterschied zwischen den deutschen und bulgarischen Tempusformen, der darin bestehe, dass das deutsche Tempussystem „keine klare Differenzierung zwischen Zeitform und Zeitstufe“ aufweise. Die deutsche Sprache bediene sich weit häufiger anderer Sprachmittel, um Zeitliches auszudrücken, als das Bulgarische. Hier wird auch deutlich, dass die Berücksichtigung des Verbalaspekts notwendig ist, wenn zwischen deutschem und bulgarischem Verb verglichen werden soll, denn es heißt: „Im Unterschied zum Deutschen zeichnet sich das Bulgarische durch eine klare Unterscheidung zwischen Abgeschlossenheit und Nichtabgeschlossenheit auf jeder einzelnen Zeitstufe aus.“ Im Sinne des oben angeführten Verständnisses des Renarrativs wird als wesentlicher Unterschied angeführt, dass die „morphologische Realisierung des Zeitbegriffs durch die Tempora an eine ebenfalls morphologische Differenzierung persönlicher Informiertheit von nicht persönlicher Informiertheit des Sprechers gekoppelt ist.“(pp. 107-110) Dadurch bleiben die o. a. Unterschiede in den temporalen Bedeutungen beider modaler (nach Nicolova „evidenzialer“ [18]) Paradigmen im Bulgarischen unberücksichtigt.
Im ersten Teil von Kapitel III. wird aufgrund germanistischer fundamentaler bzw. Standardliteratur übersichtlich die Geschichte des deutschen Tempussystems vom Althochdeutschen bis heute beschrieben. Schwerpunkt ist dabei die Entwicklung vom indoeuropäischen Aspekt-Tempus-System zum Tempussystem mit dem Kern Präsens und Präteritum im Frühneuhochdeutschen sowie die Entstehung und Verbreitung der periphrastischen Tempusformen, des Satzrahmens und deren Ursachen. Im zweiten Teil dieses Kapitels wird die Entwicklung des bulgarischen Tempussystems seit der altbulgarischen Periode beschrieben. Schwerpunkte sind: „1. Erhalt und weiterer Ausbau des altbulgarischen Tempussystems; 2. „Formeninflation“ im präteritalen Bereich, sprich funktionale und formale Erweiterung des bulgarischen Perfekts über die Nacherzählformen; 3. Fortbestehen der Unterscheidung zwischen Aorist (...), Imperfekt (...) und Perfekt trotz des Vorhandenseins eines perfektiven und imperfektiven Aspekts.“ (p. 145) Postuliert wird unter Berufung auf K. Mirčev und Iv. Haralampiev, dass durch diese Entwicklung des bulgarischen Verbalsystems – offenbar im Unterschied zum Deutschen – „selbständig entstandene Formen [...] keine direkten Beziehungen zu den entsprechenden Formen des Indoeuropäischen hatten.“ Das bedeute „dass in der bulgarischen Zeitwahrnehmung bereits im Altbulgarischen ein stark ausgeprägtes Bedürfnis danach bestand, die Zeit durch das Verb und das, was das Verb bezeichnet, auszudrücken.“ [19] Im Gegensatz zur Behandlung des Tempussystems im Deutschen wird in diesem Kapitel ausführlich auf die ethnischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten bei der Entwicklung des Bulgarischen in der Entstehungsphase des schriftlich überkommenen Altbulgarischen eingegangen, um für die besondere Position dieser grammatischen Gegebenheiten im Rahmen der slawischen Sprachen eine Erklärung zu finden. Ioveva erklärt: „Eine Schlüsselrolle in diesem Prozess sehe ich in der Kultur und der Sprache der ursprünglich nicht slavischen Bulgaren, welche zur Unterscheidung von den heutigen, slavischen Bulgaren als Protobulgaren bezeichnet werden.“(p. 147) Es wird also eine soziolinguistische Erklärung gesucht, die Ansätze in der modernen Historiografie und Sprachgeschichte hauptsächlich in Bulgarien, aber auch im Ausland (z.B. durch A. Levin- Steinmann) aufgreift. Gewissermaßen in Vorbereitung auf das folgende Kapitel, das dem eigentlichen, durch den Titel und in der Einführung erklärten, Ziel der Arbeit gewidmet ist, werden ausführlich mögliche Einwirkungen der turksprachigen protobulgarischen Eliten in den ersten Jahren nach der Staatsbildung auf die Sprachentwicklung im Lande angeführt . Die Argumentation stützt sich hauptsächlich auf Etymologien und Ähnlichkeiten im Wortschatz, die wegen des wenigen oder nicht gesicherten Nachweismaterials häufig mit Adjektiven bzw. Adverbien wie „spekulativ“, „vermutet“, „umstritten“, „allem Anschein nach“, „möglicherweise“ u. ä. versehen sind. (p. 147-153). Nicht zu übersehen ist auch die aus der Geschichtswissenschaft stammende Unsicherheit bei der Einschätzung der Sprachsituation im Ersten Bulgarenreich in den beiden Jahrhunderten vor der Einführung des Altbulgarischen als Staatssprache im 9. Jh. Jedenfalls wird postuliert, dass „die altbulgarische Zeit eine Periode der sprachlichen, kulturellen und ethnischen Verschmelzung der (vermutlich irano-turkstämmigen) Protobulgaren und der bulgarischen Slaven waren.“ Schlussfolgernd aus in letzter Zeit sich häufenden Veröffentlichungen in Bulgarien über echte und auch – nach Auffassung des Rezensenten – fragwürdige Belege von protobulgarischen Einflüssen auf das slawische Bulgarisch heißt es, das Bulgarische zeichne sich „durch Merkmale ausgesprochen nicht-slavischen Charakters“ aus. Dazu gehören nach Ioveva das analytische Nominalsystem und der bestimmte Artikel, der Verlust des Infinitivs, die stark ausgeprägte Doppelaspektualität bei den Verben, der Erhalt der Unterscheidung zwischen Aorist , Imperfekt und Perfekt, der Renarrativ und die Fähigkeit des Perfekts, „nicht direkt beobachtete Ereignisse zu wiedergeben“ (p. 153-154). In einem kurzen Absatz wird erwähnt, dass drei der aufgezählten Besonderheiten auch als Balkanismen eingeordnet werden. Hier ergibt sich – was die Rolle und das Schicksal der protobulgarischen Sprache in den ersten Jahrhunderten der Existenz des jungen bulgarisch-slavischen Staats angeht – ein historischer Aspekt, der für die von Ioveva bearbeitete Problematik nicht unbedeutend sein könnte, von Verf. aber relativ wenig beachtet wird. Das betrifft die besondere Rolle von Byzanz und damit der griechischen Sprache in der Politik und Kultur der protobulgarischen Herrscher bereits vor der Landnahme Asparuchs nördlich und südlich der Donau und auch in der Zeit danach: Einer der akribischsten bulgarischen Historiker, Petăr Mutafčiev, beschreibt in seiner „История на българския народ 681-1383“ die Beziehungen, die der Begründer des alten Großbulgariens, Khan Kubrat, bereits im 7. Jh. mit Byzanz pflegte. [20] Er selbst und seine Familie (zu der auch sein Sohn Asparuch gehörte) sei seit seiner Kindheit häufig – auch längere Zeit – in Byzanz gewesen und sogar christlich getauft worden. Auch andere Familien aus dem Kreise der protobulgarischen Aristokratie hätten in dieser Zeit als Emigranten in Byzanz gelebt. Von da an hatten die Protobulgaren fast ständig Kontakt mit Byzanz, z. B. als Bündnispartner in Kriegen, die Konstantinopel mit Feinden an seinen Ostgrenzen führte, als Helfer von Justinian II. beim Kampf um den byzantinischen Thron (Khan Tervel), durch das Studium von (proto)bulgarischen Aristokraten an der Schule von Magnaura (z.B. Simeon der Große), durch direkte militärische Auseinandersetzungen usw., schließlich auch durch die Christianisierung durch byzantinische Geistliche. Die slawischen Stämme wiederum, mit denen Asparuch seinen Staat gründete, waren bei ihrer Ansiedelung auf byzantinischem Gebiet auf eine autochthone Bevölkerung gestoßen, die hauptsächlich aus Griechen sowie romanisierten bzw. hellenisierten Thrakern bestand. Sie bekamen somit ebenfalls engen Kontakt zur griechischen Sprache und waren auch gut informiert über die macht- und außenpolitischen Entwicklungen in Byzanz, weil sie diese Kenntnisse für ihre kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Byzantinern benötigten. Außerdem siedelten sie u. a. im Gebiet um Thessaloniki, das von den Byzantinern beherrscht wurde (man denke dabei an die Tätigkeit der Brüder Kyrill und Method). Das Griechische wird also vor, während und nach der Staatsgründung zumindest sowohl der protobulgarischen als auch der slawischen Aristokratie bekannt gewesen, in Verhandlungen mit Byzanz verwendet worden sein und eine wichtige Rolle für den Aufbau der neuen staatlichen Ordnung gespielt haben. Es ist naheliegend anzunehmen, das es in der Zeit nach der Staatsgründung auch als „lingua franca“ in der Kommunikation zwischen den führenden Vertretern beider Völkerschaften gedient hat. Belegt ist das z. B. dadurch, dass noch längere Zeit nach der Christianisierung in der Kanzlei des bulgarischen Zaren griechisch geschrieben wurde. Bestimmte Gräzismen im heutigen Bulgarisch sind ein Zeugnis dafür. Und noch ein interessanter Aspekt der sprachlichen Gegebenheiten auf dem Gebiet der slawischen und protobulgarischen Siedelung in den der bulgarischen Staatsgründung vorangehenden Jahrhunderten und deren Auswirkungen auf die spätere Entwicklung des Bulgarischen sollte nicht übersehen werden: Der Historiker und Archäologe J. Herrmann, ein ausgezeichneter Kenner der bulgarischen Geschichte des Mittelalters, schreibt dazu: „Das slavische Siedlungsgebiet erstreckte sich seit dem 7. Jh. über große Teile der ehemaligen römisch-byzantinischen Provinzen und Gebiete mit romanisierter Bevölkerung.“ Einflüsse des Lateinischen auf die unikalen Eigenschaften des Bulgarischen (und Makedonischen) sind deshalb ebenfalls in Erwägung zu ziehen. [21]
Schlussfolgerungen wie die von Verf. zitierten Levin-Steinmanns, die daran zweifelt, dass die Protobulgaren ihre Sprache „aufgegeben haben [...] vor allem nicht bei der herausragenden sozial-politischen Rolle, die sie unter der Herrschaft von Krum auf der Balkanhalbinsel gespielt haben“ sind angesichts der Kompliziertheit der Sprachsituation im Ersten Bulgarenreich und auf der ganzen Balkanhalbinsel nicht unbedenklich akzeptierbar. (p. 149) Immerhin sind aber in diesem Zusammenhang Betrachtungen Iovevas über eventuelle Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Balkanslawen und Protobulgaren interessant und könnten bei linguistischer, ethnologischer und historiographischer – auch archäologischer – Vertiefung, die jedoch infolge der Quellenlage nicht einfach sein wird, beachtenswerte Ergebnisse erbringen. (p.151) [22]
Im Kapitel III wird auch auf die Entstehung des Renarrativ-Paradigmasn eingegangen. Als Nachfahren von Protobulgaren werden die turksprachigen Tschuwaschen als Beleg angeführt, dass diese Verbformen mit ihrer für die slavischen Sprachen unikalen Bedeutung der „Nichtbezeugtheit“ (zur Semantik s.o.) unter dem Einfluss des Protobulgarischen entstanden seien. Interessant ist im gleichen Kapitel, dass – ausgehend von Studien K. Kabakčievs – eine in der grammatischen Literatur u. E. bisher wenig beachtete Abhängigkeit der Aspektbedeutung zweiaspektischer Verben von der Verwendung des bestimmten Artikels bei ihren Objekten behandelt wird. In diesem Zusammenhang sind Gedanken über Wechselwirkungen zwischen der Verwendung von Perfekt und Imperfekt und der nominalen Kategorie „Bestimmtheit“ im Satz beachtenswert und können zu weiteren Untersuchungen anregen. (p.169-171)
Der vom Titel der Arbeit bestimmte Kern der Arbeit Iovevas ist das Kapitel IV: „Kulturgeschichtliche Hintergründe der Entstehung und Entwicklung der Tempussysteme im Deutschen und Bulgarischen.“ Tragende Idee Iovevas ist im deutschen Teil (Teilkapitel I), dass in der deutschen Sprache (und Kultur) der Raum eine besonders große Rolle spiele, und „da die Zeit nach Aristoteles durch Bewegung im Raum entsteht, ist auch das Zeitempfinden einer Sprachgemeinschaft (...) an die entsprechende räumliche Wahrnehmung gebunden“, was für das Deutsche gelte. Sie beruft sich in diesem Zusammenhang auf Zitate von dem französisch-deutschen Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt und meint: „Die Gesamtheit der deutschen Sprache bilde sich von der Lage und Bewegung im Raum aus, wie es die ´Wechselpräpositionen’, die so genannten Positionsverben (...) sowie die Präfixe, die jedem Verb jeweils vollkommen unterschiedliche Bedeutungen verleihen, beweisen“. [23] Ausgehend von Positionen bekannter Autoren wie J. Fried und hauptsächlich L. Götze, der (wie im Vorwort zu lesen steht) die Beratung der Autorin bei der Arbeit an ihrem Buch übernommen hatte, wird eine kulturphilosophische Konzeption verfolgt, die mit historischen und aktuellen Beispielen anhand von Wortbildungsmustern und Verwendungsweisen vor allem von Präpositionen aus dem Deutschen den Beweis erbringen soll, dass bestimmte Unterschiede zwischen der deutschen und der bulgarischen Sprache durch eben diese räumliche Orientierung als Grundlage für den Ausdruck von Zeitbeziehungen in der ersteren bedingt seien. Der Unterschied zwischen dem Deutschen und dem Bulgarischen bestehe „in einer jeweils unterschiedlichen Wahrnehmung von Dasein, Raum, Bewegung und in diesem Zusammenhang auch von Zeit, da Zeit an Raum und Bewegung gebunden ist.“ Die Spezifik der Tempussysteme beider Sprachen unterscheide sich dadurch, dass im Deutschen „Defizite der Tempusformen“ [24] ergänzt werden durch lexikalische Mittel und die Rahmenkonstruktion der Sätze, während das Bulgarische über „die sprachgeschichtlich besonders stabilen und im Vergleich zum Deutschen sowie den restlichen slavischen Sprachen [25] zahlreichen Tempora und (...) die verbalen Aspekte und die zahlreichen Aktionsarten“ zur „zeitlichen Situierung des verbalen Geschehens“ verfüge. (p. 181) Begründet wird dies zunächst im Teilkapitel „Raum, Klima, Gesellschaft der Germanen und die synthetischen Formen zum Ausdruck des Zeitbezugs“ (p. 182 ff.). Hier wird eine Schilderung des „Lebensraums“ der Germanen anhand von speziell ausgewählter historischer Literatur gegeben. U. A. ist diese – wie in vielen historischen Texten zur Geschichte der Germanen – gestützt auf die Beschreibung der geografischen Grundlagen der Lebensverhältnisse der Germanen (menschenleere Wälder, Sümpfe, wenige Verbindungen) wie sie von Plinius, Tacitus oder auch Caesar wahrgenommen wurden. Dabei wird allerdings nicht immer berücksichtigt, dass diese Autoren, auf die sich auch die heutige Geschichtsschreibung stützt, die Maßstäbe des Römischen Reiches an die beschriebenen Ländereien anlegten und nicht die der Bewohner dieser Gebiete. Aus sprachhistorischer Sicht muss man für ihre Schriften in Rechnung stellen, dass aus der Zeit ihrer Entstehung (1. Jh. u. Z.) so gut wie keine Zeugnisse über die Sprache(n) der Germanen vorliegen. [26] In den Teilkapiteln stellt Ioveva – hauptsächlich unter Berufung auf J. Fried, H.-J. Goertz, G. Weber/A. Baldamus sowie auch auf M. Gronemeyer – eine These über die sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten der Germanen im frühen Mittelalter auf, die als Grundlage für die kulturkontrastive Charakterisierung des deutschen Verbalsystems dienen soll. In der Folge von Raumnot, in der sie lebten, seien sie gezwungen gewesen, Zeit über den Raum zu messen und zu definieren. Diese Grundfolgerung wird in ausführlichen Betrachtungen und Erklärungen im Zusammenhang mit Aktionsarten, Polysemie von Präpositionen und Adverbien sowie der deutschen Rahmenkonstruktion und Etymologien behandelt. Ergänzt wird diese These durch die Annahme, dass im „Zeitgefühl“ der frühmittelalterlichen Deutschen „keine klare Differenzierung zwischen den Geschehnissen und Vorgängen auf den einzelnen Zeitebenen“ zu verzeichnen war. „Aufgrund der damaligen Lebens- und Denkweise unter den (...) beschriebenen geographischen und klimatischen Bedingungen“ sei kein Bedürfnis nach einem vorausschauenden Denken und Handeln und nach einem „weit in die Vergangenheit reichenden Gedächtnis“ vorhanden gewesen. Beide Thesen sollen die Existenz von nur zwei Tempora (Präsens und Präteritum) im Germanischen nach der Zeitenwende begründen. Unter der Überschrift „Raum- und Zeitwahrnehmung“ wird – nach Fried – erklärt, dass infolge des Lebens auf „einem engen Territorium“ der Handlungsspielraum eingeschränkt und so die räumliche Wahrnehmung und das Zeitgefühl negativ beeinflusst worden sei. Nach Weber und Baldamus wird dargelegt, dass infolge der „Unüberschaubarkeit und Unwegsamkeit des germanischen Lebensraums“ keine klare Trennlinie zwischen „hier“ und „dort“ und „früher“ und „später“ existiert habe. Nach Ried wäre „Gleichzeitigkeit“ oft als „Gleich-Örtlichkeit“ dargestellt worden. (p. 192 ff.) Als weiterer Mangel des Germanischen wird – anhand von Beispielen aus der gotischen Bibelübersetzung – angeführt, dass während „das Griechische des Neuen Testaments die Aktionsart sowohl durch den Tempusstamm (...) als auch durch Präfigierung ausdrücken konnte“ im Gotischen nur das Mittel der Präfigierung „zur Verfügung“ stand. (p. 195) Im gleichen Teilkapitel wird auch (z. T. in Auswertung von Behagels „Deutscher Syntax“) die Existenz von Präfixen im Gotischen im Hinblick auf räumliche und zeitliche Bedeutung von präfigierten Verben behandelt.
Vom Ende des 4. Jh. macht Verf. unter der Überschrift „Differenzierung des Raums – Differenzierung der Sprachformen“ einen Sprung in die Reformationszeit mit einem Vergleich der Sprache der Lutherschen Bibelübersetzung mit der Wulfilas. Als Folge des „Bedürfnisses nach größerer zeitlicher Präzision“ seien im Frühneuhochdeutschen die analytischen Tempora Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und Futur II entstanden. Von hier wird der Bogen geschlagen zur Satzrahmenkonstruktion des deutschen Satzes, der nun wiederum auf die „räumliche Wahrnehmung der Germanen“ zurückgeführt werden soll. Die deutsche Kleinstaaterei wird als Folge der „ursprünglichen Lebensraum-Enge“ der Deutschen angesehen. Wieder wird die Friedsche Interpretation dieser historischen Entwicklung herangezogen um zu belegen, dass die „Neigung zur Abspaltung und Abgrenzung die gesamte deutsche Ethnogenese“ präge. Allerdings wird nicht verschwiegen, dass die Erscheinung selbst ein Ergebnis mittelalterlicher Machtpolitik war. Es wird relativ anschaulich geschildert, wie die Reformation mit der Bibelübersetzung und die damit verbundene „Zersplitterung des deutschen Reiches“, der Dreißigjährige Krieg und seine Folgen für die Deutschen „die Sehnsucht nach Ordnung und Einheit“ mit ihrem „Ausdruck in der Sprache“ bewirkt habe. Dieser sei hauptsächlich aus dem „Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit“ entstanden. Für solche „‘vereinigende’ Strukturen“ seien besonders periphrastische Verbformen geeignet gewesen, weil mit ihnen im Satzrahmen komplexe hypotaktische Strukturen aus zusammenhängenden Informationen möglich wurden. Die „Vereinigung mehrerer Satzglieder ‘unter einem Dach’“ brächten – im o.g. Sinne – „auf psychologischer Ebene das Bedürfnis nach Einheit und Zusammengehörigkeit zum Ausdruck“. (p. 206) [27] Um die Frage nach den Zeitvorstellungen der Germanen zu konkretisieren, wird ein Teilkapitel der Zeitrechnung bei ihnen gewidmet. Interessanterweise wird als Beispiel der isländische vorchristliche Kalender nach G. A. Bilfinger beschrieben [28]. Auch die Zeitvorstellungen des Folcuin von Lobbes und des Augustinus werden behandelt. (p. 208 ff.)
Das Kapitel wird beendet mit folgender Verallgemeinerung: „Somit sind die deutschen Tempora als sprachlicher Ausdruck komplexer psychologischer Verbindungen zwischen räumlicher und zeitlicher Wahrnehmung aufzufassen, welche durch eine Reihe von Besonderheiten des Lebensraums, der Lebensweise sowie der geschichtlichen Entwicklung der Deutschen bedingt waren.“ (p. 215) Hinzugefügt wird unter Berufung auf einen Artikel von M. Schreiber im „Spiegel“ die Tatsache, dass der Satzrahmen im Deutschen der Gegenwart immer häufiger missachtet und die Satzlänge immer geringer werde, was durch die „Präsenz der Massenmedien“ und die „Beschleunigung der Lebensvorgänge“ zu erklären sei. Auffällig ist überhaupt, dass bei der Behandlung des Deutschen nicht differenziert wird zwischen den Existenzformen von der Zeit der Stammessprachen mit ihrer differenzierten Rolle für die Entwicklung der deutschen Sprache als Schriftsprache seit Wulfila über die Literatur aus den Klöstern seit Karl dem Großen, die Minnesänger, die Meistersinger bis hin zu Luther und der deutschen Sprache der Gegenwart, die aus soziolinguistischer Sicht kein einheitliches Ganzes bildet. Das betrifft die regionalen Dialekte und Umgangssprachen genau so wie staats- bzw. nationsbedingte Differenzierungen. [29] Mehr Beachtung hätte das Lateinische als Quelle für Besonderheiten der deutschen Sprache, insbesondere ihrer schriftsprachlichen Variante, verdient.
Das dem Bulgarischen gewidmete Teilkapitel II in Kapitel IV beginnt mit der Erklärung, dass es dazu dient, zwei Hypothesen zu begründen: Erstens: Das reiche Tempussystem des Bulgarischen hängt „mit der Kultur und dem Zeitbewusstsein der Protobulgaren im Kontext ihrer früh fortgeschrittenen Staatswesen zusammen“. Zweitens: Die Existenz einer „großen Vielfalt“ von Verbformen zeugt dafür, dass „in der bulgarischen Zeit-Wahrnehmung die Handlung bzw. das Geschehen der wichtigste Zeitindikator war/ist.“ Diese „Besonderheit“ hänge „vermutlich“ mit der militärischen Dynamik und Organisation der Protobulgaren zusammen“. (p. 216) Dem Nachweis der Berechtigung dieser Hypothesen sind spezielle Abschnitte gewidmet:
„Staatswesen der Protobulgaren; Architektur und Bauwesen als Ausdruck des Sakralen; Stein- und Felseninschriften der Bulgaren als Ausdruck ihres Zeitbewusstseins; Die Rosette aus Pliska; Der protobulgarische Kalender; Kosmologische Grundlagen der Auffassungen von Zeit und Dasein der Bulgaren; Die Schöpfung und die Zeit der Vorstellungen der altbulgarischen Epoche nach der Christianisierung Bulgariens im 9. Jh.; Militärische Dynamik und Organisation der Bulgaren als Grund für die Definition der Zeit durch Verbformen; Über die Dynamik der Bulgaren heute“. (p. 216-259)
Dem Grundgedanken, der dieses Kapitel durchzieht, dient das Bemühen der Verf., mit Materialien aus einer ganzen Reihe von den Protobulgaren gewidmeten Veröffentlichungen, von denen ein beträchtlicher Teil in den Jahren nach 1990 erschienen ist, ihre erste Hypothese zu begründen. Beeindruckend ist die Persistenz und Akribie, mit der Ioveva in der wissenschaftlichen (auch para- bzw. grenzwissenschaftlichen) Literatur nach derartigen Quellen gesucht hat. Manche der zitierten und eigenen Aussagen beruhen auf Vermutungen – gestützt auf Deutungen ausgewählter historischer bzw. auch archäologischer Quellen. Das betrifft letztendlich vor allem die Rolle der Protobulgaren nach der Landnahme durch Asparuch nördlich und südlich der Donau und ihr Verhältnis zu den Slaven, die seit Ende des 6. Jahrhunderts dort siedelten. Gerade die Annahme eines – ziemlich effektiven – Einflusses des Protobulgarischen auf das in den altbulgarischen Schriften dokumentierte Slavische ist nicht eindeutig zu erklären, wenn nicht die Vorgeschichte der Staatsbildung 681 und die Kontakte zwischen Protobulgaren und den in den betroffenen Gebieten lebenden Slawen (und darüber hinaus) berücksichtigt werden. So gibt es zuverlässige historische Indizien, dass die Protobulgaren nach dem Zerfall des Hunnenverbandes, dem sie angehörten, um die Mitte des 5. und Anfang des 6. Jahrhunderts während der Existenz von Großbulgarien neben den o. g. Kontakten zu Byzanz auch solche mit zahlreichen Slawenstämmen unterhielten. Nach dem durch die Überfälle der Chasaren bewirkten Zusammenbruch Großbulgariens, das, wie Verf. richtig feststellt, ein Zeugnis für eine „hochentwickelte frühmittelalterliche bulgarische Kultur“ darstellte, traf Asparuch bei seiner Landnahme zunächst nördlich der Donaumündung ebenfalls auf dort siedelnde Slawen, und bei seinen Feldzügen gegen Byzanz kämpfte er im Bündnis mit einer Vereinigung von sieben slawischen Stämmen. Die lange währenden Kontakte zwischen Protobulgaren und slawischen Stämmen sowie die Rolle des Griechischen als internationale Verkehrssprache im Einflussbereich von Byzanz müssten bei der Klärung des „Rätsels“ berücksichtigt werden, wie es möglich war, dass das Protobulgarische im altbulgarischen Reich nicht Staatssprache werden konnte. Das schließt nicht aus, dass gerade eben die Kontakte zu den Slawen seit dem 6. Jh. auf das Altbulgarische eingewirkt haben können. Das Protobulgarische muss jedoch nicht die einzige Turksprache sein, die südslawische Sprachen im frühen Mittelalter eventuell beeinflussten. [30] Für die Beherrschung der Zeit durch die Bulgaren wird von Verf. das Substantiv час und seine Etymologie (nach Anstatt) als Beleg angeführt. Allerdings würde ein Vergleich mit dem deutschen Stunde einen Gegenbeweis gegen die These von der Raum- statt Zeitorientierung bei den Germanen ergeben. Denn eine so zentrale und entscheidende Benennung mit deiktischer Zeitmarkierung, nämlich *stunta, altsächsisch stunda mit der Bedeutung „Stunde, Zeit, Weile“ ist bereits aus dem Althochdeutschen überliefert. [31]
Das Kapitel IV enthält auch Schilderungen einer Reihe von der Verf. in der Literatur entdeckter interessanter Thesen, die überwiegend auf der Basis von Präsumierungen und potenziellen Interpretationen beruhen. Sie beziehen sich auf geistig-kulturelle, religiöse und politisch-militärische – weniger ökonomische – Eigenschaften der Protobulgaren, die auf die Entwicklung der heutigen Bulgaren und ihrer Sprache sowie ihrer Mentalität entscheidende Einflüsse ausgeübt haben sollen und ihre Auswirkungen auf das Tempussystem gehabt hätten. Insbesondere wird die „Militärische Dynamik und Organisation der Bulgaren“ (gemeint sind offenbar die Protobulgaren) als Quelle für die „Definition der Zeit durch Verbformen“ hervorgehoben. Als Beleg fehlen jedoch Angaben, wie das protobulgarische Verbalsystem – linguistisch gesehen – auf das slawo-bulgarische im 9. und 10 Jh. eingewirkt haben könnte. Hier bietet sich eine Rückkehr zur Renarrativ-Problematik an. Ist doch die Existenz dieses Paradigmas eines der wichtigsten Argumente Iovevas für den protobulgarischen Einfluss auf das slawische Bulgarisch. Bekannt ist, dass die von der bulgarischen Sprachgeschichtsforschung über den Zeitraum, in dem diese Formen sprachgeschichtlich belegbar sind, Meinungsunterschiede bestehen, was wiederum mit dem Argument verbunden ist, welches in den vierziger und fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts von Andrejčin und Mirčev vetreten wurde, nämlich dass diese Formen unter dem Einfluss des Türkischen entstanden seien. Andere haben in älteren Schriftdenkmälern und auch archaischen Dialekten in der bulgarischen Diaspora solche Formen entdeckt [32]. Man kann mit Berechtigung davon ausgehen, dass die sog. kopulalose l-Periphrase seit der mittelbulgarischen Periode verwendet wurde. Das ist ein Entwicklungsabschnitt, in dem die Sprachentwicklung in Bulgarien zwischen dem Ersten und Zweiten Reich unter byzantinischer Herrschaft (1018 – 1285) verlief. In dieser Zeit entstanden in den nördlichen Gebieten des ehemaligen bulgarischen Staates intensive Kontakte zu den von jenseits der Donau vordringenden Kumanen, die in den Auseinandersetzungen um die Gründung des Zweiten bulgarischen Staates und seine Erweiterung einbezogen waren. So sollen die Führer des Aufstandes gegen Byzanz, die Brüder Petăr und Asen, kumanischer Abstammung gewesen sein. [33] Aus dieser Sicht kann die These von Levin-Steinmann der Wahrheit sehr nahe kommen, dass u. a. turksprachlicher Einfluss durch das Kumanische die Entwicklung dieses modalen Paradigmas befördert haben kann. Der Schreiber dieser Zeilen erhielt aus Bulgarien die Information, dass in der kürzlich erfolgreich an der Sofioter Universität verteidigten balkanologischen Dissertation von Ekaterina Tărpomanova davon ausgegangen werde, dass diese Formen mit ihrer evidenziellen Bedeutung zwar in der vorosmanischen Periode entstanden seien, die endgültige Grammatikalisierung der Kategorie aber erst in der Zeit der osmanischen Herrschaft erfolgte. Dieser Standpunkt leuchtet ein, wenn man berücksichtigt, worauf Levin-Steinmann hinweist: Im Rechtswesen des Osmanischen Reichs war der Zeugenbeweis vor Gericht „vollwertiges Beweismittel“. Dabei konnte der Zeuge nur bezeugen, was er selbst gesehen hatte. Falls Augenzeugen nicht anwesend waren, konnten sie von zwei bis 20 und mehr Zeugen vertreten werden, die sich auf “Hörensagen“ beriefen. Diese Situation kann nach Levin-Steinmann angesichts der im Osmanischen Reich sehr vielfältigen Funktion des „Kadis“ ausreichend gewesen sein, „um der Übertragung der turksprachigen Indirektiva in andere Sprachen endgültig den Weg zu bahnen.“ [34]
In einer Zusammenfassung des Kapitels IV wird – ausgehend von den bisherigen Ausführungen zum Tempussystem des Deutschen – behauptet, dass die „ursprünglichen geographisch-klimatischen Bedingungen, insbesondere der eingeschränkte Lebensraum der Germanen“ ein „stark an den Raum gebundenes Zeitgefühl“ verursacht hätten, was das „ursprüngliche Vorhandensein nur zweier Formen zum abstrakten Ausdruck des Zeitbezugs“ erkläre. Da Sprache (nach Harald Haarmann) „ein Produkt des abstrakten Denkens“ sei, wird erklärt, dass das deutsche Tempussystem im Vergleich zum bulgarischen das Ergebnis einer geringeren Abstraktionsfähigkeit der Sprachträger sei. Diese Auffassung beruht auf dem Zustand des Tempussystems in den altbulgarischen Texten Kyrills und Methods aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts und den nach deren Norm angefertigten Übersetzungen im Ersten Bulgarenreich. Eine Existenz von renarrativischen Formen ist in dieser Phase der Entwicklung des slavischen Bulgarisch nicht feststellbar. Im Althochdeutschen beginnt die Entwicklung von analytischen Perfekt-, Plusquamperfekt- und Futurformen nach dem 4.-5. Jh.. Von frühdeutschen Mundarten gibt es schriftliche Zeugnisse seit der Mitte des 7. Jahrhunderts, die dies belegen. [35]
* * *
Abschließend kann zu Iovevas Buch Folgendes (aus unserer Sicht) zusammengefasst werden:
– Es enthält als Beitrag zur konfrontativen Beschreibung des deutschen und bulgarischen Tempussystems aus „kulturkontrastiver“ Sicht interessante Erwägungen und Interpretationen, die Linguisten (speziell natürlich Germanisten und Bulgaristen), Historiker, Philosophen, Kulturologen, Übersetzer und Übersetzungswissenschaftler, Völkerkundler und andere, die sich für die Kulturgeschichte, für die beiden Sprachen und die Mentalität ihrer Träger interessieren könnten. Das Buch enthält eine nicht geringe Zahl von angerissenen Problemen aus der Entwicklungsgeschichte beider Sprachen, die Ausgangspunkt weiterer Untersuchungen sein können.
– Die Ausführungen über Unterschiede und Gemeinsamkeiten (hauptsächlich Unterschiede) zwischen den Tempussystemen und deren Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte, auch ihre Wertungen, beruhen auf konfrontativen Analysen anhand von vorhandenen uni- und bilingualen Beschreibungen der Geschichte und der aktuellen Verwendung der Tempora in beiden Sprachen. Dabei wird insbesondere versucht zu begründen, dass die Unterschiede zwischen dem bulgarischen Tempussystem und dem deutschen infolge der „Raumknappheit bei den Germanen“ (und ihrer aus diesem Grunde geringeren Fähigkeit zur Abstraktion) zum Unterschied von der bereits im Altbulgarischen vorhandenen Grundlage einer wegen eines „früh entwickelten Staatswesens“ „stark entwickelte(n) Fähigkeit zur Abstraktion in Bezug auf den Ausdruck der Zeit“ entstanden sind. Der Leser gewinnt auch den Eindruck, dass sich die Behandlung der grammatischen Besonderheiten im Bereich des Verbs beider Sprachen besser und genauer beschreiben lässt, wenn sich der Vergleich nicht nur auf die Tempora, sondern auch auf Modus und Genus verbi sowie die Funktionen des Infinitivs beziehen würde. Eingegangen wird auch nicht auf Auswirkungen der gemeinsamen Herkunft vom Indoeuropäischen auf die Paradigmatik im Formensystem der beiden Sprachen. [36] Was das deutsche Verbalsystem betrifft, so könnten auch sicherere Schlussfolgerungen über seine kulturellen, kognitiven und grammatischen Grundlagen in den einzelnen Entwicklungsphasen und Existenzformen von der Völkerwanderung bis zur Entstehung der gegenwärtigen deutschen Schriftsprache gezogen werden, wenn differenzierter auf die Struktur und Bedeutung der verbalen Paradigmen seit dem 5. Jh. eingegangen würde.
– Obwohl in der Arbeit kurz über die sog. Balkanismen im Bulgarischen informiert wird, wirft die Tatsache von deren Entstehung in der Struktur der modernen bulgarischen Sprache (zu der ja auch der Verlust des Infinitivs gehört) und die seit dem 14. Jh. bis zur Wiedergeburt grundsätzlich veränderten Existenzbedingungen des bulgarischen Ethnolekts – gerade im Vergleich mit dem Deutschen – Fragen auf, deren Beantwortung aus kultursoziologisch-linguistischer Sicht im Zusammenhang mit Iovevas Thema bedeutsam sein könnten. [37]
– Hypothetisch erscheint dem Schreiber dieser Zeilen auch die Schilderung der Bedingungen, unter denen sich die germanischen Sprachen bzw. das Deutsche und seiner Träger an der Schwelle des Übergangs vom Indoeuropäischen zu den Sprachfamilien und im frühen Mittelalter entwickelten. Die überwiegende Orientierung der Autorin auf eine bestimmte Richtung in der deutschen Geschichtswissenschaft grenzt – offenbar gewollt – den Interpretationsrahmen stark ein.
– Zur kulturkontrastiven Erklärung der Tempora (einschl. des Renarrativs) war eine starke Konzentration auf die Rolle der Protobulgaren und ihrer Kultur und Sprache für die Entwicklung des Bulgarischen notwendig. Da diese Thematik insgesamt nur mit der Deutung von Indizien, Vermutungen und Hypothesen zu behandeln ist, trägt vieles in der Arbeit tatsächlich hypothetischen Charakter.
– Der Verfasser dieser Betrachtungen sah sich deshalb veranlasst – hauptsächlich aus der Position des Linguisten und Bulgaristen – ausführlichere kritische bzw. ergänzende Ausführungen zu einzelnen Problemkreisen zu machen. Sie könnten möglicherweise eine weitere Arbeit in der von der Verfasserin gewählten Richtung, die durchaus fruchtbar und nützlich sein kann, fördern oder initiieren. Aus linguistischer Sicht könnte eine Erweiterung der Untersuchungen auf das gesamte Verbalsystem in beiden Sprachen – auch unter Verwendung moderner linguistischer Methoden, wie z. B. der Soziolinguistik, der Sprechakttheorie, der kognitiven Linguistik u. a., interessante Erkenntnisse erbringen. Man könnte dann auch ältere einzelsprachliche oder vergleichende sprachwissenschaftliche Arbeiten mit auswerten.
ANMERKUNGEN
[1] Ioveva, Mina: Zeit und Tempus im Deutschen und Bulgarischen. Versuch einer kulturkontrastiven Betrachtung. (Im Medium fremder Sprachen und Kulturen. Bd. 22) Frankfurt a./M.: Peter Lang Edition, 2014. 292 pp.
[2] Der Leser kann zum verwendeten Kulturbegriff nur aus den „kulturkontrastiven“ Darlegungen in den einzelnen Kapiteln schlussfolgern.
[3] Zu diesem Teil kann angemerkt werden, dass der Autorin die Bestimmung des methodischen Problems, welche Literatur als wissenschaftliche und welche als populärwissenschaftliche einzuordnen ist, wohl nicht immer gelungen ist.
[4] Vgl. Thomas Heinrichs: Zeitbegriffe – Zeitbegriff. Analyse ihrer Bedeutungsfelder. http://www.uni-münster.de/PeaCon/kapzeit/z-texte/ThomasHeinrichsZeitbegriff.htm
[5] Vgl. H. Bußmann: Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart, Kröner, 2002, p. 149 f.
[6] Rudolf Aitzetmüller: Altbulgarische Grammatik als Einführung in die slavische Sprachwissenschaft. Freiburg i. Br., U. W. Weiher. 1978, pp. 159-173.
[7] Kapitel III der Arbeit Iovevas belegt eigentlich mit der Behandlung der Rolle von Tempus, Aktionsart und auch Aspekt in der Entwicklung beider Sprachen die Richtigkeit des Standpunkts von Aitzetmüller.
[8] Vgl. z. B. dazu: Светомир Иванчев: Проблеми на аспектуалността в славянските езици. София 1971. Калина Иванова: Начини на глаголното действие. София 1976. Hilmar Walter: Temporale, aspektliche und modale Semantik des Verbum finitum im modernen Bulgarischen. Berlin, Akademie-Verlag, 1977, p. 18 f. (Bulgarisch: Хилмар Валтер. Личните глаголни форми в българския език. София, Наука и изкуство, 1988, стр. 29 и сл.)
[9] Das Verhältnis von Ioveva zum Aspekt im Bulgarischen und dessen Bedeutung für ihre Arbeit ist nicht ganz eindeutig. So findet sich im Kapitel IV eine Anmerkung, dass Aspekte, Aktionsarten und Partizipien zwar dem Tempussystem nicht zugeordnet seien, aber dem Ausdruck temporaler Verhältnisse dienen und nun bei der Analyse „mit berücksichtigt“ werden sollen. (p. 216)
[10] Hervorzuheben sind die beiden im Rahmen eines deutsch-bulgarischen Gemeinschaftsprojekts veröffentlichten vergleichenden Grammatiken: Pavel Petkov (Hrsg.), Ana Dimova, Diana Slivkova-Steinkühler, Emilija Dentscheva, Birgit Igla: Deutsche Grammatik im Vergleich mit der Grammatik der bulgarischen Sprache (mit der neuen Rechtschreibung). Sofia 2002. Vassilka Radeva (Hrsg.), Hilmar Walter, Jordan Penčev, Sigrun Comati: Bulgarische Grammatik. Morphologisch-grammatische Grundzüge. Hamburg, Helmut Buske, 2003. Vgl. auch: Hilmar Walter: Zur Beschreibung von Äquivalenzbeziehungen zwischen finiten Verbformen des Deutschen und Bulgarischen. In: Germanistische Linguistik 171-172, Wort und Grammatik. Hrsg.: Ana Dimova, Herbert-Ernst Wiegand. Marburg/Lahn, Olms, 2003; S. 33 ff.
[11] Vgl. zur Funktion des Präteritums: Pavel Petkov..., a.a.O., S. 89 ff. Vgl. auch: Hilmar Walter: Ebd., S. 42.
[12] In letzter Zeit hat in der Slawistik Björn Wiemer eine Reihe interessanter Arbeiten zum Thema „Evidenzialität“ vorgelegt, die sich nicht nur mit deren Ausdruck im Bulgarischen befassen. Vgl. B. Wiemer: Evidenzialität aus kognitiver Sicht. In: T. Anstatt, B. Norman (Hrsg.): Die slavischen Sprachen im Licht der kognitiven Linguistik. Wiesbaden, Harrassowitz. 2010, 117 ff. und die dort angegebene Literatur.
[13] Anke Levin-Steinmann: Die Legende vom bulgarischen Renarrativ. Bedeutung und Funktionen der kopulalosen l-Periphrase im Bulgarischen. München, Sagner, 2004
[14] Руселина Ницолова: Българска граматика – Морфология. София, Унив. издателство «Св. Климент Охридски», 2008, стр. 317 и сл. Dies.: „Модализованная эвиденциальная система болгарского языка“. В: РАН. Иститут лингвистических изследований. Эвиденциальност в языках Европы и Азии. Санкт-Петербург, Наука, 2007, стр. 105-195.
[15] Erschienen in: Вопросы грамматики болгарского литературного языка. Москва 1959.
[16] Vgl.: Tодор Бояджиев, Иван Куцаров, Йордан Пенчев: Съвременен български език. Фонетика, Лексикология, Словообразуване, Морфология, Синтаксис. Под редакцията ня проф. д-р Т. Бояджиев. София, изд. «Петър Берон», 1998, стр. 399 и сл. Hier wird ausgegangen von Paradigmen des Indikativs, Imperativs, Konditionals und Konklusivs. Der Renarrativ wird hier als spezielle Kategorie „Aussageweise“ (вид на изказването) behandelt. Siehe auch die Darlegungen des Schreibers dieser Zeilen in: Vassilka Radeva, a.a.O.; p. 138-153.
[17] Vgl. Katharina Reiss, Hans J. Vermeer: Grundlagen einer allgemeinen Translationstheorie. Tübingen 1991, p. 126. Auch: Хилмар Валтер: За категориите евиденциалност и модалност в българския език от гледище на теорията на речевите актове. (Vortrag auf dem III. Internationalen Bulgaristikkongress, Mai 2013) Im Druck.
[18] Българска граматика, стр. 318 и сл.
[19] Falls diese Bemerkung so verstanden werden soll, dass dadurch Unterschiede zum deutschen Tempussystem entstanden sind, so muss darauf hingewiesen werden, dass die ersten analytischen Formen im Verbalsystem des Deutschen bereits im 4./5. Jahrhundert entstanden sind. Vgl. z. B. :Joachim Schildt: Abriß der Geschichte der deutschen Sprache. Berlin, Akademie-Verlag 1976, S. 73.
[20] Петър Мутафчиев: История на българския народ 681 – 1383. София, Изд. на Българската академия на науките, 1986., стр. 101 и сл. Vgl. auch: Ludwig Wamser (Hrsg.): Die Welt von Byzanz – Europas östliches Erbe. Stuttgart, Theiss, 2004, S.6 ff.
[21] Vgl. Joachim Herrmann (Hrsg.): Welt der Slawen. Geschichte, Gesellschaft, Kultur. Urania, Leipzig, Jena, Berlin, 1986, S. 62, 79. М. Филипова-Байрова: Гръцки заемки в съвременния български език. София 1969, стр. 10 и сл.; Кирил Мирчев: Историческа граматика на българския език. София 1978, стр. 69 и сл. Bemerkenswert ist in diesem Zusamenhang auch die Tatsache, dass die von Kyrill geschaffene schriftsprachliche Variante des von den Slawen in und um Saloniki gesprochenen „Altbulgarisch“ sowohl lexikalisch als auch grammatisch – auch syntaktisch – durch das Griechische beeinflusst war. Vgl. R. Růžička: Das syntaktische System der altkirchenslawischen Partizipien und sein Verhältnis zum Griechischen. Veröffentlichungen des Instituts für Slawistik, Berlin, Akademie der Wissenschaften, Bd.27. Interessante Beobachtungen finden sich zum Einfluss des Griechischen auf die altbulgarischen Texte auch bei: A. M. Селищев: Старославянский язык, часть I, Москва, Учпедгиз, 1951, стр. 11 и 25. Vgl. auch: Aнгелина Минчева: Старобългарският език в светлината на балканистиката. София, Наука и изкуство, 1987, стр. 16 и сл. Zur Diglossie seit dem Ersten Bulgarenreich aus der Sicht des Soziolinguisten siehe: Михаил Виденов: Диглосията. София, Акад. издателство „Марин Дринов”, 2005, стр. 97 и сл.
[22] In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass es empfehlenswert gewesen wäre – was speziell die Sprachentwicklung in Bulgarien angeht – Erkenntnisse und Auffassungen aus der Balkanologie zu berücksichtigen. Zu einem Versuch des Schreibers dieser Zeilen: Hilmar Walter: Sprachgemeinschaft – Kommunikationsgemeinschaft – Balkansprachbund. In: Linguistique Balkanique, 1991, № 3-4, p. 3 etc. (Bulgarisch : Езикова общност – комуникативна общност – балкански езиков съюз; in: Хилмар Валтер: Избрани българистични трудове. Велико Търново, Универс. издателство 2007, стр. 245 и сл.)
[23] Gemeint sind Präpositionen und Adverbien in der verbalen Wortbildung wie in „abfahren, hinfahren, nachfahren“, im Althochdeutschen „abafaran, hinafaran, nāhfaran“, die Verbpaare „stellen-stehen, liegen-legen“ u.a. Das heutige Substantiv „Gegenwart“ habe als althochdeutsches „geginvart“ die lokale Bedeutung „gegenüber“ ausgedrückt. (p. 182 ff.)
[24] Gemeint ist, dass es im Deutschen weniger verbale Tempusformen als im Bulgarischen gibt.
[25] Das Makedonische wird implizite von den „restlichen slavischen Sprachen“ ausgenommen. Ein Vergleich mit den formenreichen Verbalsystemen in den zum ehemaligen Serbokroatischen gehörenden Sprachen wäre möglicherweise von Nutzen gewesen. Vgl. die kontrastive Beschreibung des serbokroatischen finiten Verbs in: U. Engel, P. Mrazović: Kontrastive Grammatik Deutsch-Serbokroatisch. Bd. 1, Novi Sad, Prosveta, 1981. S. 108 ff. Auch: E. Barić, M. Lončarić, Dr. Malić, Sl. Pavešić, M. Peti, V. Zečević, M. Znika: Priručna gramatika hrvatskoga književnog jezika. Zagreb, Školska knjiga, 1979, str. 160 i sl.
[26] Allerdings fallen in diese Zeit auch die bekannten Aktivitäten der beiden germanischen Stämme der Cherusker und Markomannen, die sowohl in ihren Beziehungen zum Römischen Reich als auch in ihren kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Römern und untereinander bewiesen haben können, dass ihre Kommunikationsfähigkeit nicht durch geografische Isolation der Stammesangehörigen eingeschränkt gewesen sein kann, was im Widerspruch steht zu der von Verf. verallgemeinerten Auffassung Frieds, dass die räumlichen Voraussetzungen die Kommunikation der Germanen erschwerten. (p. 190, Fußnote 679))
[27] Zur Entwicklung der Satzrahmenkonstruktion, deren Entstehung und Funktion in Kapitel III behandelt wird, ist allerdings anzumerken, dass sie nach der modernen kommunikativ orientierten Sprachwissenschaft als ein Ergebnis der Notwendigkeit im Mittelalter anzusehen ist, „komplizierte Denkinhalte in einem Satz syntaktisch zusammenzufassen, d.h. der Anteil von Satzgefügen [...] nahm gegenüber dem einfachen Aussagesatz zu.“ Die Ursache sieht man u. a. in der Notwendigkeit der Entwicklung des Urkundenwesens, das es erforderlich machte, komplizierte Sachverhalte vor allem juristisch einwandfrei schriftlich zu fixieren. Aufgrund dieser Notwendigkeiten ist auch die Tendenz entstanden, Stellungsgewohnheiten für bestimmte Satzglieder einzuführen, wie z. B. die Stellung der finiten Verbform im Aussagesatz an zweiter Stelle. Die bis dahin übliche additive Wortfolge wurde durch das Prinzip der funktionalen Satzperspektive ersetzt, und das „sinnschwerste Wort“ trat an das Ende des Satzes. Vgl. J. Schildt in: Kleine Enzyklopädie Deutsche Sprache. Leipzig, VEB Bibliographisches Institut, 1983, S. 630.
[28] Da sich die Arbeit mit dem Deutschen beschäftigt, sollte in diesem Zusammenhang wenigstens erwähnt werden, dass das Isländische sich bereits nach der Zeitenwende zusammen mit anderen nordgermanischen Sprachen von den deutschen Stammessprachen getrennt hatte. Vgl. C.J. Hutterer in: Kleine Enzyklopädie Die deutsche Sprache, Erster Band, Leipzig, VEB Bibliographisches Institut, 1969, S. 100 ff. Auch: Wikipedia: Nordgermanische Sprachen.
[29] Als einfache Beispiele für Unterschiede im Bereich der Verbformen kann man die Verwendung von haben und sein bei der Bildung des Perfekts, die Entstehung von spezifischen Konstruktionen mit substantiviertem Infinitiv (die sog. „rheinische Verlaufsform“ mit Aspektcharakter) vom Typ ich bin am Arbeiten oder die Tatsache, dass im oberdeutschen Raum anstelle des Präteritums nur das Perfekt verwendet wird, anführen. Auch die Existenz der Formen des doppelten Perfekts und doppelten Plusquamperfekts im Indikativ und Konjunktiv, die – im oberdeutschen Sprachraum entstanden – zunehmend in der gehobenen Umgangssprache und auch in der schönen Literatur verwendet werden, hätte berücksichtigt werden können, wenn bei der Beschreibung der Verhältnisse im Deutschen nicht nur von der allgemein akzeptierten schriftsprachlichen Norm ausgegangen worden wäre.
[30] Vgl. Herrmann: a.a.O., S. 51. Hier berichtet der Verfasser über die Teilnahme großer Kontingente von Slawen am Feldzug der Awaren gegen Konstantinopel im Jahre 626.
[31] Vgl. Autorenkollektiv unter Leitung von W. Pfeifer: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Q-Z, Berlin, Akademie-Verlag, 1989. S. 1752.
[32] Vgl. z. B.: Георги Герджиков: Преизказването на глаголното действие в българския език. София, Наука и просвета, 1984, стр. 252 и сл.; Ders.: Хронологията на преизказването на глаголно действие в българския език. В: Първи международен конгрес по българистика, Доклади – Исторически развой на българския език, т. I, София 1983, стр. 127 и сл.
[33] Vgl. Мутафчиев, ibid., стр. 267. Sehr informativ ist auch ein online erschienener Aufsatz des bekannten Turkologen V. Stojanov, der sich auch gegen „national[istisch]e Konzeptionen“ in diesem Zusammenhang wendet. Vgl. Valery Stojanov: Kumanen und Kumanologie. Ueber die kumanische ethnische Komponente auf dem Balkan. Sofia, Oktober 2005. http://www.ihist.bas.bg/sekcii/CV/_private/Valery_Stojanow/VS_AvH_Kumanen.htm.
[34] A. Levin-Steinmann, a.a.O.: S. 213 f.
[35] Vgl. S. Blum in: Kleine Enzyklopädie Die deutsche Sprache, Erster Band, S. 110 ff. Vgl. auch Fußnote 18.
[36] Z. B. durch Untersuchungen wie in der Studie des Germanisten und u. a. Übersetzers des Nibelungenlieds in das Bulgarische: Борис Парашкевов: За троякото оформяне на немското глаголно окончание –st. In: Bulgaristica – Studia et Argumenta. Festschrift für Ruselina Nitsolova zum 65. Geburtstag. Hrsg. Von Sigrun Comati. München, Otto Sagner, 2008, S. 440 ff. Er stellt fest: „ ... в резултат на хилядолетен развой реконструираният индоевропейски флексив за II л. ед. ч. сегашно време -si е видоизменил своя гласеж на славянска и германска почва така, че в сравнително-исторически план съвременният му облик в български -ш кореспондира със -st в немски“. (стр. 5).
[37] Vgl.: Институт за български език на БАН (Отг. редактори: Елена Георгиева, Стоян Жерев, Валентин Станков): История на новобългарския книжовен език. София, Изд. на БАН, 1989, стр. 18 и сл.
Рецензията е публикувана в: Kritikon Litterarum. Volume 43, Issue 3-4, Pages 248–269, ISSN (Online) 1865-7249, ISSN (Print) 0340-9767, DOI: https://doi.org/10.1515/kl-2016-0044, November 2016.
Размисли за един културно-контрастивен анализ на немския и българския глагол
Хилмар Валтер (Лайпциг)
(Резюме)
Публикуваната през 2014 г. книга на Мина Йовева „Zeit und Tempus im Deutschen und Bulgarischen. Versuch einer kulturkontrastiven Betrachtung“ съдържа интересни размишления и интерпретации за широк кръг от специалисти: на първо място за лингвисти, и по-специално германисти и българисти, но и за историци, философи, културолози, преводачи и етнолози, както и за всички онези, които се вълнуват от културната история на двата изследвани езика и от манталитета на техните носители. Книгата засяга и немалко проблеми от областта на историческото развитие на двата езика, които биха могли да станат изходна точка за следващи изследвания. Внимателният ѝ прочит обаче поражда и съмнения и възражения.
Мина Йовева си поставя за цел да потърси културни, исторически и философски причини за разликите между темпоралните системи в немския и българския език. Идеята е да се установи – по примера на Луц Гьоц и неговата школа, която е ориентирана главно към усвояването на втори език – защо в немския има шест, а в българския девет темпорални форми и как те се отнасят към „времевите степени” („Zeitstufen“) минало, настояще и бъдеще. Между другото авторката се позовава на В. фон Хумболт, Шлегел, Лайбниц, Боп и др. В аргументацията се взема под внимание и хипотезата на Уорф за езиковата относителост. Привеждат се цитати от Луц Гьоц в доказателство на това, че времената като граматически средства за изразяване на времеви отношения не са универсални за всички езици. Като изходна точка Мина Йовева се позовава на концепцията на В. фон Хумболт за езиковата картина на света. В заключение авторката пише, че нейният „културно-контрастивен подход” се състои в търсенето на културните причини за разликите в темпоралните системи.
Работата се състои от увод и четири глави. В първата глава, озаглавена „Кратка история на времето”, Йовева разсъждава по следните теми: „Съзнанието за време в историята и обществото на Европа”, „Времето в естествените науки: физика, биология, изследване на мозъка, епигенетика”, „Времето в различните култури” и „Времето във и през езика”. Цитират се множество научни публикации, сред които и популярнонаучни статии от списанията „GEO Wissen“, „Spiegel“, „Stern“. Различните мнения за това, какво всъщност представлява времето, безспорно биха се сторили интересни на читателя, макар и някои от тях да не са непременно важни и необходими за разглежданата тематика. В крайна сметка става ясно, че понятието време, за което в науката има различни определения, се разглежда в смисъла на Норбърт Елиас, който постулира в своя широко цитиран труд „За времето” („Über die Zeit“), че „в свят без хора” не би имало време. В изводите си в края на книгата М. Йовева разглежда отношението между времето и пространството като важен елемент от „културно-философските” причини за темпоралните системи на двата изследвани езика и привежда следните фактори, довели до възникването на средства за изразяване на времеви отношения в различните езикови системи: „Географските и климатичните условия, т.е. материалното жизнено пространство. То е в основата на знанието за естествените природни закономерности, които обуславят процесите в природата и човешкия живот. На това се опира организацията на това знание в летоброене, календари, народни празници както и в технически открития [...]” (стр. 263). В това схващане Йовева вижда възможност за културно-контрастивно обяснение на разликите между двете темпорални системи. Всъщност това води до едно не съвсем точно диференцирано съблюдаване на лингвистично-прагматичната категория на деиксиса като най-важна област на човешкото ориентиране с трите познати, езиково релевантни измерения: персонален, локален и темпорален деиксис.
Във втора глава се разглеждат категориите време, аспект и начин на глаголното действие (Aktionsart) (с акцент върху категорията време), които според авторката са от съществено значение за описанието на глаголната система в двата езика. По проблема, че в славянските езици съществуват специални формални средства за изразяване на аспектуалните значения, докато в немския такива липсват, М. Йовева се позовава на Мелиг и приема, че в славянския аспект „една изначално пространствена перспектива се пренася върху времевата”. „Времето се дефинира чрез пространството.” Добавя се и цитат от А. Исаченко с известното сравнение с позицията на индивида във и извън походна колона (стр. 55 и сл.). При подобни тълкувания на „аспекта” трябва обаче да се има предвид, че това всъщност са метафорични, онагледяващи обяснения, използвани предимно в чуждоезиковото обучение, които създават тази „пространствена” връзка. Семантиката на аспектните форми възниква всъщност във връзка с унаследената от индоевропейския системна необходимост за експлициране на отношението на говорещото лице при реализиране на денотативно значение. Това може да се докаже с кратък екскурс в историята на старославянския с помощта на старобългарската граматика на Р. Айцетмюлер, излязла още през 1978 г. Той стига до интересни изводи за възникването на аспектната категория в славянските езици като последствие от развитието на езикови семейства в индоевропейския и при преминаването към праславянския, чиято късна фаза той вижда реализирана в старобългарския. Във връзка с целите на Йовева следната констатация на Айцетмюлер изглежда важна: „Свързването на действието с времето се извършва на две равнища. То може да се категоризира от говорещото лице в миналото, настоящето или бъдещето. [...] Второто равнище, на което действието и времето се свързват, е продължителността, респ. непродължителността на действието.” Според него във връзка с необходимостта от израз на дуративност и пунктуалност на това равнище се е развила категорията начин на глаголното действие като граматично-лексикално средство, което обуславя възникването на вербалния аспект в славянските езици. С това Айцетмюлер дава убедителна обосновка защо аспектът е категория, свързана с времето.
Въпреки че съответствията между темпоралните форми в немския и българския са доста сложни заради разликите по отношение на категорията аспект, която липсва в немския, а в българския влияе върху цялата вербална система, М. Йовева се спира само спорадично на аспектните разлики при употребата на темпоралните форми. Това води до голяма степен до игнорирането на диференциацията между перфектни и имперфектни глаголи в българския език. Този подход при сравняването на двете темпорални системи буди немалко съмнения, тъй като именно българският се характеризира със сложни семантични особености при употребата на времената, което се дължи на запазването на аориста като темпорална форма и на образуването на аспектни двойки при почти всички глаголи. Това се отнася и до начините на глаголното действие на българските глаголи.
В специална подглава се отделя внимание на българските преизказни форми и на техните съответствия в немския. Описанието на „приликите” и „разликите” между възможностите за изразяване на специалната семантика на тази категория в българския език дава добра представа за употребяваните в немски еквиваленти. Нужно е да се допълни обаче описанието на т. нар. от някои немски слависти „kopulalosen l-Periphrase“ (т.е. перифрастични форми от типа «той отишъл, той пишел») и на нейните функции. Във функционалната част остават незасегнати проблеми, които се дискутират в съвременните граматики на българския език или в други публикации, свързани с наклоненията, респ. модалността. Тук очевидно се отразява и фактът, че М. Йовева не включва категорията наклонение в системното описание на двете темпорални системи. Нейната аргументация се опира основно на по-стари публикации на Вл. Георгиев, В. Станков, Е. Дьомина, А. Левин-Щайнман и определя формите на т. нар. „kopulalosen l-Periphrase“ въз основа на тяхното възникване от формите на перфекта фактически като индикативни. Несъмнено преизказните форми имат и темпорално значение, което обаче е „пречупено” през епистемичната модалност и евиденциалност.
Що се отнася до интерпретацията на преизказните форми в работата на Йовева, би било препоръчително да се вземе предвид и фактът, че заради функцията си преизказните форми винаги се отнасят до комуникативен акт, който за говорещото лице се е състоял в миналото. Въз основа на това употребата на тези форми може да се тълкува – по Роман Якобсон – като един вид интралингвална транслация.
Изводите във втората глава подчертават разликата между немските и българските темпорални форми, състояща се в това, че немската темпорална система не прави „ясна диференциация между темпорална форма и времева степен”. Според авторката немският език много по-често от българския използва други езикови средства за изразяване на времеви отношения. Като основна разлика по отношение на преизказването се изтъква, че „морфологичното реализиране на времевото понятие чрез времената е свързано с едно и също морфологично диференциране на лична от нелична информираност от страна на говорещото лице” (стр. 107-110). С това не се вземат предвид разликите в темпоралните значения на двете модални парадигми в българския (Р. Ницолова говори за „евиденциални” парадигми).
В първата част на трета глава се прави преглед на историята на немската темпорална система от старовисоконемския период до днес. Акцентът пада върху развитието на индоевропейската аспектно-темпорална система до темпоралната система в раннонововисоконемския с основните времена Präsens и Präteritum, както и върху възникването и разпространението на перифрастичните темпорални форми, на изреченската рамка и на причините за тях.
Във втората част на трета глава се описва развитието на българската темпорална система от старобългарския период насам. Чрез позоваване на К. Мирчев и Ив. Харалампиев се приема, че поради развитието на българската глаголна система – явно за разлика от немската – „самостоятелно възникнали форми нямат директна връзка със съответните форми в индоевропейския”. Това означавало, „че в българското времево възприемане още в старобългарския език е съществувала силно изразена нужда за изразяване на времето чрез глагола и чрез това, което глаголът обозначава”. За разлика от описанието на темпоралната система в немския език тук подробно се разглеждат етническите и обществените обстоятелства при развитието на българския език във фазата на възникване на писмено засвидетелствания старобългарски, за да се намери обяснение за особената позиция на тези граматични явления в рамките на славянските езици. Във връзка с това М. Йовева пояснява: „Според мен ключова роля в този процес играят културата и езикът на първоначално неславянските българи, които за разлика от днешните, славянски българи се наричат прабългари” (стр. 147). В известна степен като подготовка за следващата глава, посветена на същинската цел на работата, подробно се представят възможните влияния на тюркоезичните прабългарски елити върху развитието на езика в страната в първите години след създаването на държавата. Основно аргументацията се опира на етимологии и прилики в лексиката, които поради оскъдния или несигурен доказателствен материал често са придружени от прилагателни или наречия като „спекулативно”, „вероятно”, „оспорвано”, „както изглежда” и др. (стр. 147-153). Прави се извод, че „старобългарското време е период на езиково, културно и етническо смесване на прабългарите (които вероятно имат ирано-тюркски произход) и на българските славяни.” Неслучайно българският се характеризирал с „белези от явно неславянски характер”. Към тях според Йовева спадат аналитичната номинална система и определителният член, изчезването на инфинитива, силно изразената двойна аскпектуалност при глаголите, запазването на разграничението между аорист, имперфект и перфект, преизказните форми и способността на перфекта „да предава недиректно наблюдавани събития” (стр. 153-154). В кратък абзац се споменава, че три от изброените особености могат да се определят и като балканизми. Тук се засяга един исторически аспект, който за разглежданата в книгата проблематика може да се окаже съществен, на който обаче авторката отделя сравнително малко внимание. Става дума за особената роля на Византия и на гръцкия език за политиката и културата на прабългарските владетели още преди завоеванията на Аспарух на север и на юг от Дунав и във времето след това.
Трябва да се отбележи и още един интересен аспект, който сигурно оказва влияние върху по-късното развитие на българския език. Историкът и археолог Й. Херман, който е и отличен познавач на българската история на Средновековието, отбелязва: „От VII в. нататък населяваната от славяните област се простира през големи части от бившите римско-византйски провинции и територии с романизирано население.” Затова трябва да се имат предвид влияния и на латинския върху уникалните характеристики на българския (и македонския).
В трета глава се взема отношение също и по въпроса за възникването на парадигмата на преизказните форми. Като наследници на прабългарите тюркоезичните чуваши се посочват като доказателство в полза на това, че тези глаголни форми със своето уникално за славянските езици значение на „несвидетелственост” са възникнали под влияние на прабългарския.
Ако съдим по заглавието на книгата, основната част на книгата се разглежда в четвърта глава: „Културно-исторически причини за възникването и развитието на темпоралните системи в немския и българския език”. Основната идея на Йовева в немската част (първа подглава) е, че в немския език (и култура) пространството играе важна роля, и „тъй като времето според Аристотел възниква чрез движение в пространството, също и възприемането на времето в една езикова общност [...] е свързано със съответното пространствено възприятие”. Тук се прокарва една културно-философска концепция, която с помощта на исторически и съвременни примери като словообразувателни модели и начини на употреба преди всичко на предлози в немския трябва да докаже, че определени разлики между двата езика се дължат именно на това пространствено ориентиране, което дава основа за израза на времеви отношения в немския език. Разликата между немския и българския език се състояла „в едно съответно различно възприемане на битието, пространството, движението и в тази връзка също и на времето, тъй като времето е свързано с пространството и движението.” Темпоралните системи на двата езика се различавали по това, че в немския „дефицитите на темпоралните форми” се допълват от лексикални средства и рамковата конструкция на изреченията, докато българският благодарение на „исторически особено стабилните и в сравнение с немския, както и с останалите славянски езици, многобройни времена и [...] глаголни видове и многобройните начини на глаголното действие” управлява „времевото ситуиране на вербалното действие” (стр. 181).
Посветената на българския език втора подглава започва с обяснението, че тук ще се обосноват две хипотези: първо – богатата темпорална система на българския е свързана „с културата и времевото съзнание на прабългарите в контекста на тяхната ранно развила се държава”, второ – съществуването на „голямо разнообразие” от глаголни форми доказва, че „в българското времево възприемане действието, респ. случващото се, е било/е най-важният индикатор за време.” Тази „особеност” се дължала „вероятно” на военната динамика и организация на прабългарите (стр. 216).
В обобщението на четвърта глава се прави извод за немския език, че „първоначалните географско-климатични условия, особено ограниченото жизнено пространство на германите” били предизвикали „времево чувство, силно свързано с пространството”, което обяснявало „първоначалното съществуване на само две форми за абстрактно изразяване на време”. Тъй като езикът бил (според Харалд Харман) „продукт на абстрактното мислене”, това обяснявало защо немската темпорална система в сравнение с българската е резултат от по-малката способност за абстракция на своите носители.
В заключение може да се направи следното обобщение:
– Изложените разлики и прилики (основно разлики) между темпоралните системи и историческият преглед на тяхното възникване и развитие, както и тяхната оценка, се опират на съпоставителни анализи, извършени въз основа на налични едноезични и двуезични описания на историята и актуалната употреба на времената в двата езика. Основно авторката се опитва да докаже, че разликите между българската и немската темпорална система възникват вследствие на „оскъдното пространство при германите” (и тяхната свързана с това по-малка способност за абстракция) за разлика от съществуващата още в старобългарския основа за „силно развита способност за абстракция по отношение на израза на време” благодарение на „ранно развитата държава”. Читателят също остава с чувството, че граматичните особености в областта на глагола в двата езика могат да бъдат по-добре и по-точно описани, ако сравнението се отнасяше не само до времената, но обхващаше също и наклонението и залога, както и функциите на инфинитива. Не се разглеждат също така последствията от общия произход от индоевропейския за парадигматиката във формалната система на двата езика. Що се отнася до немската глаголна система, биха могли да се направят по-сигурни изводи за нейните културни, когнитивни и граматични основи в отделните развойни етапи и форми на съществуване от Великото преселение на народите до възникването на съвременния немски книжовен език, ако се обърне по-специално внимание на структурата и значението на вербалните парадигми от V век насам.
– Макар че в работата се дава кратка информация за т. нар. балканизми в българския език, фактът за тяхното възникване в структурата на съвременния български език (към които спада също и изчезването на инфинитива) и настъпилите основни промени в условията на съществуване на българския етнолект от XIV век до Възраждането пораждат въпроси – особено в сравнение с немския, – чийто отговор от културно-социологична и лингвистична гледна точка би могъл да бъде от съществено значение за темата на Йовева.
– Хипотетично изглежда също и описанието на условията, при които се развиват германските езици, респ. немският и неговите носители, на прага на прехода от индоевропейския към езиковите семейства и през Ранното средновековие. Преобладаващата ориентация на авторката към една определена посока в немската историческа наука силно ограничава рамките на интерпретацията.
– Културно-контрастивното обяснение на времената (вкл. на преизказните форми) е довело до силна концентрация върху ролята на прабългарите и на тяхната култура и език за развитието на българския. Тъй като тази тематика може да се разглежда най-общо само с помощта на тълкуване на индикации, предположения и хипотези, много от написаното в работата действително има хипотетичен характер.
– Затова авторът на тези редове се вижда принуден – главно от позицията на лингвист и българист – да даде по-подробни критични и допълнителни разяснения по отделни теми. Те биха могли да насърчат или инициират създаването на следващ труд в избраната от авторката насока, която може да бъде много продуктивна и полезна. От лингвистична гледна точка едно разширяване на изследванията върху цялата вербална система в двата езика би могло да доведе до интересни резултати, особено ако се използват модерни лингвистични методи от областта например на социолингвистиката, на теорията на речевите актове, на когнитивната лингвистика и др. Тогава биха могли да се вземат под внимание и някои по-стари езиковедски работи, насочени към описанието на един език или към съпоставката между езиците.
Резюмето подготви Лилия Бурова